(Deutschland/ 102 Minuten/ Start in Deutschland: 04. 09. 2025)
Beglückend! – Grad eben erst hat die Schweizerin Luna Wedler beim Internationalen Filmfestival Venedig für ihre Leistung in dem Spielfilm „Silent Friend“ den Marcello-Mastroianni-Preis als beste Nachwuchsdarstellerin erhalten. Wie gut sie ist, war bereits in „Das schönste Mädchen der Welt“ (2018) und in „Was man von hier aus sehen kann“ (2022) zu genießen. Perfekt hat sie da jeweils kindliche Unschuld und erwachsene Klugheit austariert.
Damit überzeugt sie nun auch in der Leinwandversion des erst vor zwei Jahren herausgekommenen Coming-of-Age-Bestsellers „22 Bahnen“. Sie spiegelt punktgenau die Gedanken- und Gefühlswelt der jungen Tilda, Hauptperson und Ich-Erzählerin. Alle ups and downs im komplizierten Dasein der Mathematikstudentin werden ohne Effekthascherei deutlich. Dem im Kino folgend, fühlt man sich unweigerlich rasch an der Seite der Protagonistin. Denn Luna Wedler lässt in deren Seele blicken. Doch nicht allein Dank der bravourösen Hauptdarstellerin ist dies einer der seltenen deutschen Spielfilme, die tatsächlich intensiv die Lust am Leben feiern und diese Lust eins zu eins auf das Publikum übertragen.
Drehbuchautorin Elena Hell und Regisseurin Mia Maariel Meyer haben für ihre Adaption einige Handlungsstränge gekürzt sowie dies und das gestrichen. Das aber mit Sensibilität. Die Leserschar dürfte drum auch den Film mögen. Wie im Buch, so steht die etwa zwanzigjährige Tilda im Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Mathematikstudentin fühlt sich selbst noch nicht ganz erwachsen. Doch seit Jahren muss sie ihrer kleinen Schwester Ida (Zoë Baier) die Eltern ersetzen. Der Vater hat sich vor langem verdrückt. Die Mutter (Laura Tonke) ist dem Alkohol verfallen. Tilda hat das alles im Griff. Doch es stehen Veränderungen an: Zum einen verliebt sie sich, zum anderen lockt eine Promotionsstelle nach Berlin. Kann sie Ida allein lassen? Klar, dass die Antwort darauf nicht eben auf der Hand liegt …
Erzählt wird das alles, der Romanvorlage entsprechend, mit Ernst und mit Humor, dabei nie platt. Wirkungsvoll: die oft dokumentarisch anmutende Bildgestaltung. Viele Momente wirken überaus authentisch. Kameramann Tim Kuhn hat ein feines Gespür für brutale Schärfe und beruhigende Sanftmut. Sentimentalität hat dabei keine Chance. Das gilt auch für die meist erfreulich knappen Dialoge und Off-Kommentare.
Neben Luna Wedler ragt aus dem insgesamt exzellenten Schauspielensemble Laura Tonke heraus. Brutal genau zeichnet sie die alkoholkranke Frau, doch belässt ihr eine schöne Würde. Einsamkeit, Unbildung, Perspektivlosigkeit prägen das Leben dieser Mutter. Das hätte leicht zu einer oberflächlichen Typenskizze führen können. Doch Laura Tonke gelingt in wenigen Auftritten mehr, nämlich eine tiefschürfende Charakterstudie. In einer kurzen Szene sagt die Tochter der Mutter Furchtbares: „Du hast noch nie Kinder großgezogen, du hast sie nur bekommen.“ Laura Tonkes Gesicht zeigt zugleich Wut und Scham, Luna Wedlers Mut und Verzweiflung. In grad mal ein paar Augenblicken decken die beiden Schauspielerinnen damit das gesamte Ausmaß der familiären Katastrophe ab. Man hält den Atem an.
Eine weniger kunstvolle und dabei publikumswirksame Verfilmung des Bestsellers wäre garantiert ins Seichte abgeglitten, hätte mit Banalitäten genervt, um letztlich ein düsteres Drama der Scheußlichkeiten des Lebens zu illustrieren. Nichts davon hier. Man verlässt das Kino mit einem ganz wunderbaren Gedanken: Das Leben kann so schön sein.